In „Lord of the World“ erlebt Mabel Brand gleich zu Beginn Schreckliches: Eine Flugmaschine der Regierung kracht in eine Zugstation. Sofort eilen Regierungseinheiten herbei, um mittels Euthanasie die Verwundeten und Sterbenden von ihren Leiden zu befreien. Einem zufällig anwesenden Priester gelingt es noch, einem sterbenden Katholiken das Viatikum zu spenden. Mabel Brand lässt diese Begebenheit nicht in Ruhe, im Verlauf der Geschichte verfällt sie mehr und mehr einer tiefen Traurigkeit und weist sich schließlich in eine Euthanasieklinik ein, um sich selbst dem Tod zu übergeben. Der Staat, der sich der Schwerverletzten, unheilbar Kranken und bereits Sterbenden erbarmt, um sie von einem qualvollen, unwürdigem Leben zu erlösen. Bürger, die ihrer Pflicht nachkommen, sich bei schwerem psychischen oder physischen Leiden selbst in eigens eingerichtete Euthanasiekliniken zu begeben, um ihrem unwürdigen und unnützen Leben ein Ende zu bereiten.
Vor mehr als hundert Jahren geschrieben, könnte sich der Roman in naher Zukunft womöglich mehr als Prophetie denn als Dystopie herausstellen. In Kanada brachte eine vom kanadischen Parlament finanzierte und in diesem Oktober veröffentlichte Studie zutage, dass eine erweiterte Legalisierung von Euthanasie dem staatlichen Gesundheitswesen bis zu 149 Millionen Dollar sparen könnte. In den Niederlanden plant man nicht nur die in Belgien bereits erlaubte Ausdehnung der Euthanasie auf Kinder unter 12 Jahren (der Infantizid ist übrigens auch erlaubt), nein, dort wurde erst kürzlich das Gesetz dahingehend geändert, dass Ärzte Demenzkranken, die den Wunsch nach Euthanasie geäußert haben, vor der Tat heimlich Beruhigungsmittel verabreichen dürfen, sollten sie begründete Sorge haben, dass sich der Patient letztlich doch noch umentscheiden und gegen die Tötung wehren könnte.
Ein westliches Land nach dem anderen gibt die sogenannte Sterbehilfe, in welcher Form auch immer, frei. Immer wieder wird von Befürwortern der Euthanasie als Hauptargument ein „Recht auf Selbstbestimmung“ angeführt. Viele stellen sich folgende Fragen: Wer, wenn nicht der Mensch selbst, in seiner selbstbestimmten Freiheit, soll entscheiden können, ob das eigene Leben noch Sinn, Wert oder Würde hat? Ist es nicht primäre Aufgabe des Staates, genau dieses heiligste aller Rechte zu schützen? Ferner soll es auch nicht dem Staat obliegen zu entscheiden, ob diese oder jene individuelle Handlung moralisch sei oder nicht, solange sie nicht den individuell, selbstbestimmten Handlungsspielraum einer anderen Person bedrohe. Der Staat habe schlicht kein Recht, als moralisch wertender Richter aufzutreten.
Wenn dies alles stimmt, dann gibt es kein Argument gegen jegliche Form der Sterbehilfe. Jedes staatliche Verbot gegen selbstbestimmtes Sterben oder der selbstbestimmten Hilfe beim selbstbestimmten Sterben muss dann notwendig als unverhältnismäßiges, ja tyrannisches Eingreifen zurückgewiesen werden. In der Tat zeigen uns laufend Urteile oberster Gerichtshöfe in verschiedenen Ländern die innere Logik dieses Arguments.
Man muss sich daher fragen, ob die Prämissen stimmen. Hat der Mensch erstens das Recht, sein Leben zu beenden bzw. hat der Mensch überhaupt ein Recht auf (absolute) Selbstbestimmung? Ist es außerdem notwendig für den Staat, in Fragen der Moral einen neutralen Standpunkt zu vertreten und ist seine wichtigste Aufgabe, das individuelle Recht auf Selbstbestimmung zu schützen? Hier soll vor allem letzteres untersucht werden. Für erstere Frage sei an dieser Stelle bloß darauf verwiesen, dass nicht die Freiheit das höchste Gut ist, sondern das Gute schlechthin, also Gott. Der Mensch hat ferner sich nicht selbst geschaffen und somit auch kein absolutes Verfügungsrecht über sich selbst.
Gibt es den neutralen Staat?
Um die zweite Frage zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick auf die Metaebene zu werfen. Gibt es überhaupt den neutralen Staat? Ist denn nicht die Position, dass es eine neutrale Sichtweise gäbe und der Staat diese einzunehmen hätte, bereits eine wertende, also nicht neutrale Position? In der Tat scheint die heute dominierende Zurückweisung der klassischen Sichtweise von Staat und Recht, in ihrer Hinordnung auf ein objektiv existierendes, immer gleich bleibendes Naturrecht, eine liberale Werteordnung zu begünstigen. Denn das Abdrängen jeder Transzendenz und objektiver Wahrheit ins Private liefert den öffentlichen Raum des Ethischen dem freien Spiel der Kräfte aus, wo neben dem Verbot der Metaphysik die einzig gültige und einzuhaltende Regel der demokratische Konsens darstellt. Dies führt jedoch notwendigerweise zu folgenden Ergebnissen: Grundsätzlich kann es dann überhaupt keine absoluten moralischen Einschränkungen geben, da Moral nun auf dem Konsens, dem volonté générale beruht. Wer es aber vermag, diesen allgemeinen Willen richtig zu beeinflussen, vermag es auch für das „richtige Ergebnis“ in diesem Prozess zu sorgen. Im Grunde ist es nichts anderes als das Recht des Stärkeren, nur dass der Stärkere in diesem Fall derjenige ist, der an den richtigen politischen Institutionen sitzt, Kontrolle über Medien ausübt oder großen Einfluss auf die Judikative auszuüben vermag. Im günstigsten Fall kommt alles zusammen. Der „neutrale Staat“ ist also eine Illusion, denn in dem Moment, in dem der auf normative Wahrheiten verzichtet und diese ins Private verbannt, ergreift er prinzipiell Partei für willkürliche Auslegungen von Ethik und Recht, ja er öffnet die Türe für die „falsche Transzendenz einer okkulten Ideologie der Macht“.[1] Wer Macht ausübt, bestimmt, was Recht ist. Bezieht man all dies nun auf Euthanasie, so wird schnell klar, dass solch „neutraler Staat“ den Boden bereitet für die barbarische Vorstellung von würde- und nutzlosem menschlichen Leben mit allen Konsequenzen auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene. Ein Blick nach Kanada oder die Niederlande sollte dafür genügen.
Auch hier in Österreich wurde am 11. Dezember durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes das absolute Verbot Sterbehilfe gekippt. Danach wird die hiesige Regierung ebenfalls eine Entscheidung treffen müssen. Was das menschliche Leben betrifft, so gilt jedoch heute noch was immer galt: Es gibt kein Recht, unschuldiges menschliches Leben zu töten, sei es nun fremdes oder das eigene. Regierungen können sich in dieser Frage nicht nicht entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Denn wer sich nicht entscheidet und wer nicht handelt, der hat sich bereits entschieden.
[1] International Theological Commission, Religious Freedom for the Good of All, n. 64, 2019, http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/rc_cti_20190426_liberta-religiosa_en.html (2-12-2020)